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Günter Grass "Novemberland"- ein musikalisches Statement
von Günter Baby Sommer / Sigune von Osten


Am Anfang standen 13 Sonette von Günter Grass, geschrieben im trüben Monat November des Jahres 1992, als in Mölln ein Haus, in dem Türken wohnten, brannte. Die Sonette sind eine Mahnung gegen Fremdenfeindlichkeit.
Günter Baby Sommer, Komponist, renommierter Jazzschlagzeuger und langjähriger Partner bei Lesungen und Hörspielen von Günter Grass, erhielt sie zur möglichen Vertonung.

Da lagen sie eine Weile, bis die Ausländer- feindlichkeit neuerliche Wellen schlug und Günter Baby Sommer zur gleichen Zeit auf Sigune von Osten und ihr ensemble Musica Temporale traf. Es entstand ein Konzept, das analog zum Inhalt der Sonette zu klassischen Musikern auch fremde, in Deutschland lebende außereuropäische Musiker mit ihren traditionellen Instrumenten und Musiker des Jazz mit einbezog.
Sechs der dreizehn Sonette sind dem Autor Günter Grass als Rezitator vorbehalten, unterstützt von spezifischen Klängen unterschiedlicher Instrumente, sieben Sonette werden von Sigune von Osten singend interpretiert. Bei diesen sind die letzten sechs Zeilen von Günter Baby Sommer im Ductus eines Kurt Weill streng vertont und von einem instrumentalen, in der Besetzung wechselnden Bordun begleitet. Die ersten zwei mal vier Zeilen sind der Sängerin frei überlassen. Sie interpretiert sie mit einem Instrument als Duopartner. Jedem Sonett wurde von ihr ein bestimmter Charakter zugeordnet, der durch die Wahl der Instrumente unterstrichen wird. Instrumentale Zwischenspiele mit unterschiedlichstem Charakter rahmen die Sonette ein:

Ein Wechsel zwischen Klassik und Jazz, arabischer und chinesischer Musik, Ensembles und Soli, bildet die Verbindungen zwischen den Sonetten, demonstriert ein friedliches Nach-, Neben- und Miteinander unterschiedlichster Kulturen, bis sich zum Schluss des Stückes alle zu einem Hymnus vereinen.
Die Musiker sind integriert in den Ablauf der Sonette und Instrumentalstücke: Sie kommen spielend, sie wandern, sie bilden eine Gruppierung, sie reagieren auf den Text durch Haltungen, sie identifizieren sich. Das Licht als eigene Komponente liefert Stimmung und Kommentar.
Novemberland ist ein engagiertes Statement aller Beteiligten und ein Aufruf an die Zuhörer.

Günter Grass: "Ich hoffe natürlich, dass man aufschreckt und dass einem auf eine andere Art verständlich wird, wohin Fremdenfeindlichkeit führt. Das ist die Grundlage all dessen. Gerade jetzt, nach diesen Tagen, in denen mit diesen schrecklichen Terroranschlägen in Washington und New York wieder Fremdenfeindlichkeit keimt und aufkeimt... " (Allgemeine Zeitung Mainz, 28. September 2001)
Während der intensiven Probenarbeit sind diese Musiker zu einem harmonischen Ganzen zusammengewachsen, ohne ihre Andersartigkeit aufgrund des verschiedenen kulturellen Hintergrundes aufgeben zu müssen. Es entstand sowohl musikalisch als auch menschlich eine Einheit, aus der heraus eine besonders intensive Form der Darbietung wuchs.
Nach der mit Ovationen gefeierten Uraufführung in Mainz (Phönix-Halle) konnte man in der Süddeutschen Zeitung lesen:
"War es ein 'Gesamtkunstwerk', was das ensemble MUSICA TEMPORALE mit dem Duo Drache, dem Trio Takht, dem Günter Baby Sommer-Jazztett der Sopranistin Sigune von Osten und dem Sprecher Günter Grass in Mainz auf die Bühne zauberte? Nach dem denkwürdig gelungenen musikalischen Abend kann man jenen abgestandenen Begriff getrost verabschieden. Dafür ist  eine Ankunft zu vermelden: Günter Grass hat wieder seinen Platz, seinen Ort gefunden und ist in das Reich der Kunst heimgekehrt... "
Dass wenige Wochen vor der lange geplanten Uraufführung der 11. September traurige Geschichte machte, konnte keiner ahnen, hat Relationen verschoben, hat das Thema Fremdenfeindlichkeit in eine neue Dimension gehoben. (Uraufführung 10. Oktober 2001 Mainz / Phönixhalle, Dresden / Schauspielhaus: Einweihung der jüdischen Synagoge 8. November 2001, Leipzig / Gewandhaus: Gedenken an die Reichskristallnacht 9. November 2001)