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Jocy de Oliveira  'Kseni - Die Fremde'

Audiovisusuelles Musiktheater für Sigune von Osten

Europäische Erstaufführung Festspiele Ludwigshafen 2007

"Im Corso-Filmtheater präsentierte Sigune von Osten das Medea-Stück 'Kseni - Die Fremde' der brasilianischen Komponistin Jocy de Oliveira. Nach konzertanten (Teil-)Aufführungen 2002 in Dresden und 2005 Berlin erlebte Ludwigshafen die europäische Erstaufführung.

Konzertant? Halbszenisch? Szenisch? Diese Fragen darf man bei den Auftritten von Sigune von Osten nicht stellen. Seit 1996 betreibt die aus Dresden gebürtige Spezialistin für zeitgenössische Musik das internationale Kulturzentrum ART POINT im Trombacher Hof, einem 600 Jahre alten Klostergut in der Nähe von Bad Kreuznach. Nicht leicht zu verorten, schablonenfrei und immer neugierig auf jüngste Entwicklungen sind die aufs Land verlegten Experimente der in Hamburg und Karlsruhe ausgebildeten Sängerin. Natürlich ist die mythische Zauberin und Kindsmörderin Medea mit dem fulminanten Abgang im feurigen Wagen ein feministisches Fressen"...

Jocy de Oliviera, die neben der Musik auch Konzept, Text, Video, Audio und Regie zuständig ist, weiß, wie man so etwas auf die minimalistisch verknappte Bühne bringt. ?Kseni? hat sie für Sigune von Ostens Stimme geschrieben. Das hört man. Ganz hohe Tragödin kratzt sie magisches Gold aus der Schauerballade, entfaltet einen ganzen Katalog von Singen, Sprechen, Kehlkopfakrobatik, Lallen, Schreien, Gackern, archaischen Klagelauten.

Medea, die Fremde, von weit her Gekommene, ist kein Engelchen. Sie ist (und sie sagt es) die dritte Welt, die als Menetekel vor der noch geschlossenen Tür steht. Sie ist es, die alle Last der Welt auf ihren dunklen Schultern zu tragen hat, die Kriege, die Umweltzerstörung, den Hunger, die Ausgrenzungen. Die Frau (der Mensch), dem es nicht erlaubt wird, das zu sein, was er ist. Die nicht geduldete, die ihre Kinder morden muss, damit sie nicht das gleiche Schicksal aus Demütigung und Beiseitegeschobensein erleiden.

Feinst gezwirbelte Klanggespinste, exotisches Kolorit, ein Cello-Solo von wärmster Gegenwärtigkeit, daneben kalte, gnadenlose Explosionen im exotisch durchsetzten Schlagwerk, so erzählt auch in der Kürze Oliveiras eingängig dekonstruierte Musik ganze Seelenromane, Überaus fein gespielt wird sie von den sechst vorzüglichen Mitgliedern des ART POINTensembles.

Die Reinpfalz 29.10.07

Was freilich bei dem griechischen Tragödienschreiber Euripides 431 vor Christus aus Rache geschieht, deutet die brasilianische Komponistin und Regisseurin Jocy de Oliveira eher als einen Akt der Fürsorge. In ihrem Musiktheater "Kseni - Die Fremde", inspiriert von einer Ballade mittelalterlicher Troubadoure, ermordet Medea, die Emigrantin, ihre Söhne aus Mitleid, um ihnen das Schicksal der Ausgrenzung und Verachtung in einer fremden Welt zu ersparen. Ein Mythos in die Realität unserer Zeit übertragen, eine längst vergangene Spur, zurückgeblieben wie eine abgestreifte Haut, und doch anwesend als Zeichen für eine grausame Ursächlichkeit, die sich selbst im Zusammenhang mit einer so ungeheuerlichen Tat nicht exakt benennen lässt.

Was nun im Corso Film Theater bei den Ludwigshafener Festspielen mit der vorzüglichen Sigune von Osten, der die Partie der Medea gewidmet ist, und dem hinreißend musizierenden Art Point Ensemble zu sehen und zu hören war, enthüllte sich als dauernde Verschränkung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Eine Stunde lang bewegte man sich in dieser Aufführung zwischen Stille, Klang und Licht, behutsam eingelassen in ein Reich der Sinne, das anzuknüpfen schien an die alten Orakelsprüche, deren "Wahrheiten" in der Moderne allerdings direkter und überprüfbarer geworden sind.

Denn die von Medea singend oder sprechend beschworenen Zerstörungen und drohenden Verluste in dieser Welt sind als berührende Momente unmittelbar erfahrbar. Es bedarf keiner erklärungsbedürftigen Vernunft, um solche Prophetien zu entschlüsseln. Archaische Botschaften sind das, meist von einem zart klingenden Instrumentarium begleitet (Klarinetten, Violoncello, Tambura, Schlagwerk, ergänzt durch Ursula Haupenthals Skulpturen-Instrumente und Nicolai Schneiders Knabenstimme), oft fernöstlich wirkende Klänge, die sich nur gelegentlich zu einer motivisch-rhythmischen Struktur verdichten, als wollte die Komponistin auf ihrer emigrierenden Reise in das Schwebende, Unbenennbare nicht ganz auf satztechnische Begrifflichkeit und Logik verzichten.

Manchmal, so behauptet man, wird die Rückkehr von Mythen zum unbesonnenen Rückfall in die vermeintlich bessere Geschichte. Eine Gefahr, der dieser Abend nicht immer entgeht. Dafür aber verwöhnt er uns mit einem fein gesponnenen Gewebe aus vielen Gedanken und Assoziationen, die beweisen, dassich helle Vernunft und dunkler Zauber mitunter überraschend nahe sein können.

Mannheimer Morgen 29.10.2007

In der griechischen Mythologie gilt sie als Inbegriff für den ungeheuerlichen Racheakt: Medea, die sich an ihrem untreuen Ehemann rächt, indem sie nicht nur die Rivalin, sondern auch die eigenen Kinder tötet. Seit Euripides ihr 431 vor Christus das erste theatralische Denkmal setzte, haben sich viele Autoren mit Medea beschäftigt.

2002 hat sich die brasilianische Komponistin Jocy de Oliveira mit dem Medea-Mythos auseinandergesetzt: 'Kseni - die Fremde' heißt das fünfteilige Musiktheaterstück, das 2005 in konzertanter Fassung bei den Berliner Festspielen zu sehen war. Szenisch wurde das Stück im vergangenen Jahr (2006) in Rio de Janeiro uraufgeführt.

Die brasilianische Komponistin Jocy de Oliveira hat sich in ihrem Musiktheaterstück 'Kseni - die Fremde' einen eigenen Reim auf den antiken Medea-Mythos gemacht: Die ausgestoßene Emigrantin Medea wird zu einer Art Medium, das vor Fremdenhass und Fanatismus ebenso warnt wie vor Profitsucht und emotionaler Kälte. Den Mord an den eigenen Kindern verübt sie weniger aus Rachegelüsten, sondern sozusagen aus übertriebener Mutterliebe heraus - um sie vor einer sich fremd gewordenen Welt zu schützen...

Die Sopranistin Sigune von Osten ist 'Kseni - die Fremde'. Das Stück wurde ihr sozusagen auf die Stimmbänder geschrieben - ein gut einstündiger Kraftakt, bei dem sie flexibel zwischen hohen, auch schrillen Tönen, Tremoli, Melodie-Fetzen und gesprochenem Text hin- und herwechseln muss.

Eine effektvolle, archaisch anmutende Atmosphäre entsteht - passend zu der rhythmisch aufrüttelnden, dann wieder meditativ-filigranen Musik. Jocy de Oliveira, die neben einigen kammermusikalischen Werken bislang vor allem durch ihre sechs Opern auffiel, greift hier auf eine mittelalterliche Medea-Ballade der Troubadours zurück.

Mit 'Kseni - die Fremde' gibt Jocy de Oliveira ihr Statement zum aktuellen Weltgeschehen - um zu mehr Humanität aufzurufen. 

Reinigend wirken auch die leidenschaftlichen Plädoyers auf der Bühne - ganz im Sinne der altgriechischen Katharsis sozusagen.
So schafft Jocy de Oliveira vielseitiges, aussagekräftiges Musiktheater. 

Deutschlandradio / Ursula Böhmer 'Kseni - die Fremde' 29. Okt 2007

...die anspruchsvolle Partitur steckt voller Sonderzeichen. Virtuos wechselt die auf Sigune von Osten zugeschnittene Solopartie zwischen Singen, Sprechen, Flüstern, Schreien und Schluchzen. Der Tonsatz ist dennoch von eher meditativem Charakter, gründlich ausgehört und sorgfältig vernetzt. Organisch integriert sind eine alte okzitanische Ballade ?Medée fu? aus dem Mittelalter und Zitate as Rossinis Oper ?Othello?. Beides wirkt nicht als Fremdkörper.

Deutschlandradio / Ursula Böhmer 'Kseni - die Fremde' 29. Okt 2007

Alle Fotos: Peter Kapteinat
© ARTPOINT Nov. 2007